Der wunde Punkt
Der wunde Punkt – Flucht und Vertreibung: Das “Displaced”-Festival in Luckenwalde
Tagesspiegel Artikel, Montag, 22. Juni, 2015.
Von Nik Afanasjew
Das „Displaced“-Festival in Luckenwalde befasst sich mit der Flüchtlingsthematik. Alte Wunden werden aufgerissen, neue aufgezeigt.
“Als das blonde Mädchen erfährt, dass es ein Visum bekommt, fragt es nur: „Was ist ein Visum?“ Eine Frau erklärt ihr: „Wenn du irgendwo anders arbeiten willst, dann brauchst du eins.“ Dann kommt zufällig Avak vorbei, ein Zehnjähriger aus Syrien. „Habt ihr ein Visum gebraucht?“, fragt die Frau. „Ich glaube nicht. Oder doch. Ich weiß nicht“, sagt Avak und rennt weiter.
Das Mädchen zeigt auf Avak und sagt: „Aber er will doch hier leben und nicht nur arbeiten.“ Kurzes, betretenes Schweigen. Dann ist die Frau an der Reihe, sie kommt auf ein Ereignisfeld, nimmt eine Karte und liest laut vor: „Dein Asylantrag wurde abgelehnt. Du wirst nach Potentialien abgeschoben.“ Da das Mädchen etwas traurig guckt, ergänzt die Erwachsene: „Das könnte dir nicht passieren.“ Das Mädchen nickt. „Ja, ich bin hier geboren.“ Eine weitere Mitspielerin sagt: „Es werden auch Kinder abgeschoben, die in Deutschland geboren wurden.“ Wieder herrscht für einen Moment Stille, die umso eindrücklicher wirkt, als Johanna Speidels und Chus López Vidals Brettspiel um Asyl, Visa und Migration in der riesigen Mendelsohnhalle stattfindet. Hier haben nicht nur Geräusche Platz, sich zu entfalten.
Der Industriebau von Erich Mendelsohn aus den zwanziger Jahren beherbergte früher eine Hutfabrik. Tausende Arbeiter schufteten hier in den Produktionshallen in Luckenwalde, sechzig Kilometer südlich von Berlin; Rudi Dutschke stammt aus der Gegend. Die vorgelagerte Färbereihalle trägt selbst einen Hut, zumindest sieht die schachtförmige, schwarze Dachhaube so aus. Seit Jahren steht die expressionistische Ruine leer – nun wird sie vom Kulturfestival „Schlachten“ bespielt, das für seine erste Ausgabe das Thema „Displaced“ gewählt hat.
Verdrängung, Vertreibung, Entwurzelung
Noch bis zum 12. Juli widmet sich das Festival den Themen Verdrängung, Vertreibung und Entwurzelung – an einem Ort, der selber entwurzelt ist. Mit Kunst, Konzerten und Diskussionen, oder eben auch mit einem Brettspiel. Dabei verwischen die Grenzen zwischen dem fiktiven Visum des blonden Mädchens und der realen Flucht des syrischen Jungen. Im Spiel gewinnt, wer am längsten lebt.
Fast 60 Millionen Menschen waren Ende 2014 weltweit auf der Flucht, so viele wie noch nie. In Berlin hebt das „Zentrum für Politische Schönheit“ symbolisch Gräber vor dem Kanzleramt aus, Deutschland ringt mit der Flüchtlingsproblematik – 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinen 14 Millionen Vertriebenen. Festivalmacherin Emily Pütter geht es um die Verbindung zwischen historischen Erfahrungen und der aktuellen Debatte. „Künstler suchen das Fremde in sich“, sagt sie. Pütter hat selbst die meiste Zeit ihres Lebens im Ausland verbracht, 2006 kam sie nach Berlin und hat nun Luckenwalde für sich entdeckt. „Wenn jeder in sich selbst das Fremde sucht, kann Integration besser gelingen.“ Die Besucher ihres Festivals, gibt sie zu, kommen bislang vor allem aus der Hauptstadt. Luckenwalde fremdelt noch.
Todesmärsche von KZ-Häftlingen verbinden Vergangenheit und Gegenwart
Wie reagieren Künstler auf das Schicksal der Flüchtlinge von heute? Einen großen Bogen spannt in der Mendelsohnhalle Franziska Gußmann, die eine hölzerne Eva inmitten eines Feldes voller angebissener Äpfel platziert. Die Besucher sind eingeladen, selber in eine Frucht der Erkenntnis zu beißen und Eva zuzuwerfen, der Erbsünderin, der ersten Vertriebenen. Miguel Mothes zeigt mit seinem „Haus der Ferne“ wild durcheinanderlaufende, in sich verflochtene Drähte, die sich bis an die Decke ranken und doch scheinbar keine Anknüpfungspunkte haben, wie Lebenslinien ohne Anfang und Ende, verloren in Zeit und Raum.
Eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zieht auch Christa Panzner mit „Ecce Homo“, einem Grafik-Zyklus über Todesmärsche von KZ-Häftlingen. „Viele unserer Kameraden waren nicht fähig zu gehen oder zu stehen, sie sanken entkräftet auf den kalten und feuchten Boden“, heißt es dort. Ein solcher Satz könnte auch in der Geschichte eines Flüchtlings von heute stehen, der an der syrisch-türkischen Grenze ausharren muss. In der gewaltigen Halle sind mehrere Zelte des Roten Kreuzes aufgeschlagen. Wer in solchen Zelten unter kargen Bedingungen leben muss, ist vor allem mit einem beschäftigt: mit Warten.
Die Vorteile einer Industrieruine nutzen Verena Resch, Daniel Segerberg und Ninia Sverdrup bei ihrem „Wiederaufbau-Workshop“. An der Rückseite der Halle türmen sich Schuttberge auf, zwischen Steinen und Geröll liegen kaputte Fernseher, Bügeleisen, Zuckerspender, Stofffetzen. Der prototypische Nachbau einer zerbombten Stadt im Nahen Osten? Jedenfalls ein in Szene gesetztes Nachrichtenbild, hier im richtigen Leben. Aus alledem werkeln die Künstler zusammen neue Objekte, mit allen, die mitwerkeln wollen. Das Motto der Arbeit: „Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?“
Einer der Künstler ist ein syrischer Flüchtling
Avak, der syrische Junge, kommt mit drei alten Reifen von draußen. Seit drei Jahren ist er in Deutschland. Er kam mit seiner Familie per Flugzeug aus Syrien, da waren sie noch zu viert, heute sind sie zu fünft. „Ich habe viele deutsche Freunde,“ sagt Arak.
Eine besondere Rolle bei „Displaced“ nimmt Khaled al Bouchi ein. Als syrischer Künstler und Flüchtling nimmt er eine Doppelperspektive ein. Seit Januar 2014 lebt er in der brandenburgischen Kleinstadt Zossen. „Es ist okay, manchmal etwas langweilig“, sagt er. Nach seinem Kunststudium in Damaskus sollte er in die syrische Armee eingezogen werden, ging in den Libanon und floh schließlich nach Deutschland. Der 29-Jährige hat scharfe Gesichtszüge, er spricht ein melodisches Englisch. Mit seiner Bilderserie „Verwirrung der Formen“, dunkel und abstrakt-expressionistisch, verarbeitet er nach langer Schaffenspause seine eigene Situation. „Ich bin selber die Form, und ich bin verwirrt,“ erklärt er.
Al Bouchi hat sich bei seinen Bildern für die größtmögliche Nahaufnahme entschieden und untersucht die kleinste denkbare Form: den Punkt und seine Verwandlungen. So abstrahiert er zugleich von sich selbst und findet doch eine eindrückliche Metapher für die Flucht: Der entwurzelte Mensch ist kaum mehr als ein Punkt, zurückgeworfen auf nichts als sich selbst, allein gegen den Lauf der Zeit.”