Die Opfer von Krieg, Zwangsarbeit, Flucht und Vertreibung

Jan M. Piskorski (* 1956 in Stettin) ist ein polnischer Historiker. In seinem international gefeierten Buch „Die Verjagten“ legt er dar, was das Europa des 20. Jahrhunderts an Flucht und Vertreibung erlebt hat. Während eines 2-monatigen Aufenthalts im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf recherchiert er für DISPLACED 2015 zu diesen Aspekten in der Region.

Der folgender Aufsatz wurde speziell für unseren Blog geschrieben.

Die Opfer von Krieg, Zwangsarbeit, Flucht und Vertreibung

Ein Essay von Jan M. Piskorki

Europäische Geschichte beginnt mit dem Trojanischen Krieg. Am Ende des Krieges wart Troja verwüstet. Die Trojaner mit Äneas, der seine geliebte Frau im Feuer verloren hatte, flüchteten. Sie irrten lange Jahre über das Mittelmeer zwischen Kleinasien, Griechenland, Italien und Afrika , schließlich wurden sie in Libyen mit Freude aufgenommen. Sie konnten sich dort ausruhen und sogar bleiben.

33 Jahrhunderte danach kämpfen auf dem Mittelmeer (und auf dem Indischen Ozean) Tausende Flüchtlinge ums Überleben. Willkommen sind sie nicht, gerettet nur manchmal. Aus Ratlosigkeit und Schamgefühl möchte man jetzt die „Schiffe der Schmuggler“ in Libyen bombardieren. Anstatt die verstopften, migratorischen Kanäle der Welt, ihre Aorten, breiter und legal zu öffnen, möchte man naiv glauben, dass man eines der größten Probleme der menschlichen Geschichte mit Kanonen beseitigen kann. An engagierten Menschen, die privates Geld und Mühe in die Rettung von Menschen investieren, fehlt es glücklicherweise nicht. Eine von ihnen, ein 19-jähriges Mädchen aus Malta, hofft, dass wenn sie eigene Kinder haben wird, das Flüchtlingsproblem endlich gelöst ist. „Wir haben das Jahr 2015, da sollte so etwas nicht passieren” – sagt sie und fügt hinzu: „Was ist mit der Menschlichkeit geschehen, wo ist unsere Seele geblieben?”

Was passiert mit „unserer Seele“ – mit unserem europäischen Memento an Krieg und Vertreibung –, dazu möchte ich in Teltow-Fläming die letzten Zeitzeugen vom Zweiten Weltkrieg fragen. Henrik Schulze, Ortschronist aus Jüterbog, beschreibt ihn hier als „19 Tage Krieg“. „Der mindestens 10 Jahre dauerte“ – würde ich gerne hinzufügen, wenn ich über seinen interessanten Büchern sitze und über Grausamkeiten lese. Juden wurden von hier schon in den 1930er Jahren verdrängt. Danach kamen Zwangsarbeiter aus aller Welt, die 6 Jahre die nationalsozialistische Wirtschaft und Landwirtschaft unterhielten. Manche von den Hiesigen haben schon geglaubt, die Welt bleibt immer in Herren und Sklaven geteilt. Kurz danach kamen die ersten deutschen Evakuierten aus den Großstädten, die doch zum Nachdenken zwangen, und dann 1944/1945 die ganze Welle der deutschen Verjagten aus dem Osten, aber auch die Evakuierten der Konzentrationslager, die nicht selten erst hier auf den Todesmärschen ihr Leben verloren haben, eben in „19 Tagen Krieg“.

Die großen Migrationen endeten hier, wie in ganz Mitteleuropa, gegen 1947. Der Kampf in den Köpfen ging aber weiter. Die Kinder von damals bestätigen, dass die erbittertsten Schlachten nicht selten in den Köpfen geführt werden. Sie haben kein Ende, obwohl sie, wie alle Kriege, ihren Anfang haben. Nachschlachten verfolgen uns sogar noch dann, wenn in den Museen und Büchern alles geordnet und erklärt wurde. Man nimmt sie – Schreckensbilder, Schreien, Gerüche – ins Grab. So wie meine Posensche Tante Maryla, die ihren Bräutigam, der im Ersten Weltkrieg ums Leben kam, bis in die 1980er Jahren im Kopf und Herzen trug. Je älter sie war, desto öfter sprach sie von ihm, schließlich wurde er für sie zum wichtigsten Ereignis des 20. Jahrhunderts. Und das bis in die Zeit, als fast „die Wende“ begann.

 

Jan M. Piskorski mit Emily Pütter – Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf.
Image © Emily Pütter

Flucht und Vertreibung

…..aus gegebenem Anlass , dieses Bild , ein großes Ölbild an dem ich schon lange arbeite und das noch nicht fertig ist:

Mehr Meer, 160 x 150cm Öl auf Leinwand, 2015

Flucht und Vertreibung und wie es aussieht.

Die Verwandlungen der Welt

“An Stelle von Heimat halte ich die Verwandlungen der Welt”

Nelly Sachs (1891 – 1970)

Bei Ihrer Nobelpreisrede zitierte sie nur diesen Satz von sich.

Er sagt alles über Flucht und Vertreibung, über die glühenden Rätsel und die Wohnungen des Todes.

Die Heimat ist verloren, definitiv.
An ihre Stelle sind die Verwandlungen der Welt getreten.
Ich stelle mir das so vor, wie wenn ein kleines Blatt vom Dampfer fällt, gestoßen wird, gefegt wird und dann im Auf- und Ab der Wellen bleiben muss.
Zu Nelly Sachs Lebenszeiten waren die Verwandlungen der Welt fürchterlich und ob sie heute global gesehen viel besser sind, ist auch noch zu klären.

Sachs blieb relativ lang in Berlin, bevor sie mit ihrer Mutter fliehen konnte. Nach Schweden, wo sie über einen jahrelangen Briefwechsel mit Selma Lagerlöf einen Kontakt hatte, über den sie gerettet werden konnten.
Vom großbürgerlichen Zuhause in ein fremdes Land, in beengte Verhältnisse, eine andere Sprache und das als Jüdin zu der sie gestempelt wurde. Sie mußte sich damit beschäftigen mit der jüdischen Mystik und Antworten finden, die es nicht gibt.
So eben Worte in einer Sprache, die sie vernichten wollte. Also gab sie dieser Sprache die dunklen Töne. Nur sie war ihr geblieben.
Und diese Sprache ist noch sprechbar, auch dank ihr.

Huida y transformación : [edición bilingüe] / Nelly Sachs. Trad. y ed. de Antonio Bueno Tubía. En colab. en el orig. alemán con Emily Pütter

Zu Erich Mendelsohn und der Luckenwalder Hutfabrik:

Die Spielstätte unseres Festivals Schlachten mit dem Thema Displaced für 2015 hat mit der Hutfabrik einen Ort gefunden, der besser nicht sein könnte.

Dieses Gebäude verkörpert die Thematik – auf geradezu magische Weise:

Einzigartig, deplaziert, immer wieder unpassend, leer, verlassen, fast vergessen … mit ungewisser Zukunft – und doch voller Hoffnung.

Der Reihe nach:

Ein Moment der Blüte!

In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts treffen sich zwei ganz unterschiedliche Menschen. Der jüdische Hutfabrikant Gustav Herrmann und der noch unbekannte Architekt Erich Mendelsohn. Aus dieser Freundschaft und dem gegenseitigen Verständnis heraus, erhielt der Architekt den Auftrag, die Hutfabrik Friedrich Steinberg Herrmann & Co in Luckenwalde zu bauen.

Es sollte Mendelsohn schlagartig berühmt machen.

Während die Hutfabrikanten glamouröse und elegante Kopfbedeckungen entwarfen und produzierten, ging der andere einen völlig neuen, waghalsigen architektonischen Weg, der eine Formsprache erfand, die organisch rund und lichtdurchflutet war.

Beiden ging es um Schönheit, um Harmonie. Und weltweit gilt der Industriebau aus dem Jahr 1923 als das, bis heute, wohl aufsehenerregendste Gebäude dieser Art.

Das schwärzeste Schwarz

Kurz nach Mendelsohns 46. Geburtstag kommen am 30. Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht. In letzter Minute emigrieren sowohl der Hutfabrikant als auch der Architekt.

Das Gebäude bleibt zurück.

Vergewaltigt durch die neuen Machthaber, wird in dem Mendelsohn-Bau nun statt Hüten Waffen produziert. Statt Schönheit: Krieg.

Revanche

Nach 1945 nutzen die Sowjets diese Halle, um die Industrie rundherum abzubauen und mitzunehmen, was Ihnen als Befreier zusteht.

Verwaltung der Ruinen

Dann in DDR Zeiten wird die Halle zwar genutzt, aber nicht wiederhergestellt.

Verrottungsphase

Nach der Wende 89, dann liegt sie brach und dümpelt vor sich….

Vandalismus dem Verfall nahe.

Neuanfang

Ein internationaler Investor kauft dieses verfallende Ding und sucht nach Eignungen dafür.

Erst wird sie wieder hergestellt, restauriert und dann findet sich doch nichts für so etwas Großes, Internationales, Schönes, Wiederhergestelltes.

Ohne Inhalt

Jetzt liegt sie da, majestätisch, frei und offen, voller Licht und erzählt von seiner wechselvollen Geschichte und sucht nach Bestimmung.

Zukunft

Wir vom Schlachten Team sind uns einig, nur die Künste aus aller Welt können sie wieder beleben und erfüllen mit all den widersprüchlichen Erfahrungen und allen lehren, dass Größe und Schönheit und blühende Momente der Geschichte nicht völlig zerstört werden können.

Haben wir alle Mut und erfreuen uns gemeinsam mit den Menschen von überallher dieses einzigartigen Ortes.